Muttertag

Pösie für Lieb & Bösi

Gezeugt. Geboren. Geliebt.
Nichts ist vergleichbar mit dem, was eine Mutter gibt
Ich habe solches Glück, dass du die meine bist
Auch wenn ich manchmal angepisst
Von dir, von mir, von uns in unserem Kontrast
Weil wir uns so sehr gleichen
Weil wir so von einander weichen
Weil du bist, wie nur du sein kannst
Weil du alles für mich gibst, nie halb, nur ganz
Und ich bin so, so wie ich bin aus dir
Weil ich dich liebe – immer, jetzt und hier
In meiner Seele. Im Kopf. Im Herz.
Du bist mir Liebe, Freud und Schmerz
Gezeugt. Geboren. Immer geliebt.
Nichts ist vergleichbar mit dem, was meine Mutter mir gibt.

 

Warum alte Männer lieber Beige als Pink tragen

schreibchenweise

und warum es nicht immer zu ihrem Vorteil ist.

Horst war gesättigt. Nein, Horst war satt. Es stieß ihm übel auf, schon seit geraumer Zeit. Er mochte nicht mehr. Alles wurde ihm zu bunt. Eines morgens saß er mit blankem und sehr blassem Hintern auf seinem sehr gemusterten Sofa und stellte fest: Die Farbe der Polster passte nicht zu seiner Haut. Überdrüssig des aufdringlichen Sofas, überdrüssig seiner stets gut gelaunten Frau, überdrüssig seiner zu engen Hosen und zu bunten Hemden, überdrüssig, täglich das schüttere Haar in Form zu gelen und dennoch kahl auszusehen, beschloss er, sich aufzulösen.

Als Horst noch ein fescher Jüngling war, mit prächtigem Haarkleid auf Kopf und Brust, da lag ihm die Welt zu Füßen und mit ihr die Frauen – wie Gitte. Gitte war ein junges, züchtiges Ding, das er bei Eis mit bunten Streuseln schnell davon überzeugte, ihren geblümten Schlüpfer zu lupfen, damit er in ihr seine Fingerfertigkeit verbessern konnte. Neuerdings nahm Horst zweimal wöchentlich Klavierstunden, wusste er doch, wie leicht junge Mädchen ihre guten Vorsätze bei einem Musiker vergaßen. Bei Eis und Horsts talentiertem Fingerspiel vergaß auch Gitte die Mahnungen ihres Vater und ihre Augen leuchteten Horst in ihrem schönsten Blau entgegen, das Eis landete in milchig-bunten Speichelfäden auf ihrer rosa-gepunkteten Bluse und aus ihrem Erdbeermund enfleuchte ein dezent gehauchtes „Mmmmmh“. Der Frühling konnte so schön sein.

Zwei Wochen später war Gitte passé und Rita zog Horsts Aufmerksamkeit auf sich. Sie hatte einen üppigeren Busen als Gitte, dafür weniger strenge Blusen und so ungezogenes rotes Haar. Noch ungezogener allerdings waren Ritas Sommersprossen, die sie nicht nur im Gesicht trug. Die nächsten Wochen vergrub Horst regelmäßig sein Kinn zwischen Ritas gepunkteten Schenkeln um zu erkunden, wie viele Sprossen so ein Sommer hervorbringen konnte, bis Rita eines Abends heulend vor seiner Tür stand und behauptete, schwanger zu sein. Horst klärte Rita auf, dass eine Schwangerschaft in ihrem Alter keine gute Idee wäre und nur zu Unannehmlichkeiten mit dem Vater und der Gesellschaft führen würde, woraufhin Rita schnell ihre Tränen trocknete und sich fortan nur noch ihrem Pferd widmete. Vier Tage nach dem tränenreichen Gespräch bekam sie ihre Periode.

Der Sommer wurde etwas kühler, da trat Monika in Horsts Leben. Sie war rundlich, trug karierte Strümpfe und hatte dieses freundliche Lächeln auf ihren rosigen Bäckchen. Mit Monika ging Horst regelmäßig ins Kino. In der Dunkelheit des Saals und der samtigen Fürsorge bequemer Kinosessel drückte er Monikas Kraushaarkopf mit den rosigen Bäckchen immer und immer wieder in seine Lendengegend. Zunächst drohte sie dort zu ersticken, doch nach einer präzisen Einweisung in verschiedene Atemtechniken wusste Monika in etwa, was ihre Aufgabe war und wie sie diese unbeschadet überleben würde. Später im Chor sollte ihr das einen immensen Vorteil gegenüber den Mitsängerinnen verschaffen, ebenso beim Chorleiter. Dass sie nie einen der Filme vollständig sah, versüßte Horst ihr im Anschluss jedes Mal mit einem besonders großen Milchshake. Monika liebte Milchshakes. Anfang Herbst krustete dann ein unschöner und kaum mehr zu versteckender Herpes an Monikas Milchshakelippen und Horst befand, das Kinoangebot sei nun nicht mehr ganz so reizvoll.

Zum Winter wurde es ruhiger und Horst entdeckte seine Leidenschaft für die Pornografie in den eigenen vier Wänden. Nun hießen die Mädchen nicht mehr Gitte oder Rita oder Monika und sie trugen auch keine bunten Flanellkleider oder wild geblümten Baumwollschlüpfer. Bis zum Frühling genoss Horst die nacktfarbene Zweisamkeit mal mit Sunny, mal mit Bunny, mal mit Trudi oder Rosa oder Vicky, oder Vicky und Gina und verließ sein Heim nur, um das Nötigste zu erledigen. Leider gehörte dann irgendwann auch das regelmäßige Geldverdienen dazu, dies tat er fortan bei der Badischen Anilin- und Soda-Fabrik. Horst machte dort unter der Woche in Farben und am Wochenende daheim weiterhin in ungeblümter Handarbeit. Dann, zwischen Labor, Schreibtisch und Kantine, lernte er die flotte Sibylle kennen, eine der Sekretärinnen-Schülerin im ersten Ausbildungsjahr. Sibylle und Horst verband zunächst nicht viel, bis auf die ein oder andere gemeinsame Zigarettenpause. Etwa nach einem halben Jahr wagte Sibylle den nächsten Schritt und bat Horst sehr bestimmt um ein Abendessen, bei dem sie ihm ihre vortrefflichen Kochkünste vorführen wollte. Horst willigte ein und genoss sichtlich beeindruckt Rollbraten mit Schmorkraut, dazu einen vortrefflichen Rotwein sowie einen Pudding im Nachgang, der ihn ein wenig an Monikas Bauch erinnerte. Und während Horst sich im Badezimmer die letzten Speisereste aus den Zähnen pulte, dabei an Monika dachte und sich nach Bunny sehnte, schmiedete Sibylle bereits Hochzeitspläne und suchte gedanklich schon nach den passenden Tapeten fürs gemeinsame Heim. Geblümt würden sie werden, geblümt und farbenfroh, mit viel Rot, viel Orange, noch mehr Gelb und besonders viel Grün. Auf dem Sofa vor der Tapete würden unzählige Kissen schmusen, die ebenso wie die Tapeten ihre Frohheit in all ihrer Farbigkeit und Fülle ausdrücken sollten.

Horst hatte Blähungen. Sibylles Kraut bekam ihm nicht. Es rumorte arg in seinen Eingeweiden, sodass er beschloss, den Abend vorzeitig zu beenden. Er verabschiedete sich mit einem zarten Wangenkuss von einer sichtlich enttäuschten, nach Veilchen und Bratensoße duftenden Sibylle und zog allein in die Schlichtkeit der Nacht. Er war ein wenig müde und drei Monate später war Hochzeit. Eine bewegte Braut in einem üppigen Kleid, ein höflich bemühter Bräutigam und eine noch üppigere Torte, die vier Stockwerke hoch die Hecke der Nachbarn überragte, besiegelten Horsts farbenfrohe Zukunft, die bis heute keine wesentlichen Höhepunkte oder Farbveränderungen vorzuweisen hatte. Bis heute.

Horst erhob seinen blassen Hintern von seinem bunten Sofa, ging ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank mit all den bunten Hemden, die Sibylle im ausgesucht hatte, weil sie meinte, sie würden ihn jünger und frischer aussehen lassen, schob diese beiseite und griff zu einer alten aber kaum getragenen, beigefarbenen Hemd-Hosen-Kombination. Fast feierlich stieg er in die Hose und knöpfte das Hemd zu. Das Pastell seiner Haut ging nahtfrei in das sandige Creme seiner Bekleidung über. Ein dezenter Gürtel, der in etwa die Nuance eines jungen Mopses hatte, rundete das Ensemble ab. Zum Abschluss schlüpfe Horst in ein paar elfenbeinfarbene Socken und zusammen mit diesen in hellbraune Slipper. Zufrieden betrachtete er sich im Spiegel und stellte fest: Er war unsichtbar.

Mit einem leisen Lächeln auf den alten Lippen trat Horst vor die Tür und schaute die Straße hinunter in den Sonnenuntergang. Er fühlte sich unendlich frei und leicht und so unfassbar beige. Auch den Lastwagen fühlte er, aber erst Sekunden später. Und während Sibylle auf dem Markt nach Schnittblumen fragte, hörte Horst auf zu röcheln und die verschiedensten Rottöne bildeten wunderschöne Kontraste auf seinem Hemd. Sibylle hätte es gefallen.

Und plötzlich ist es kalt

schreibchenweise

Einst saß ein Mädchen in einem Park, auf einer Bank, wartend…

Kennst du sie?
Wen?
Das Mädchen, dort drüben, auf der Bank.
Nein. Sollte ich?
Ich weiß nicht. Sie sitzt dort jeden Tag. Immer zur gleichen Zeit.
Ja und? Wir stehen hier auch jeden Tag, auch immer zur gleichen Zeit.

Am Baum neben der Bank zeigen sich erste zarte Knospen. Die Luft ist so frisch, man möchte sie küssen.

Was meinst du, auf was sie wohl wartet? Oder auf wen?
Keine Ahnung. Was geht es mich an?
Sie sieht so jung aus, fast kindlich.
Das kann man doch von hier gar nicht sehen.
Vielleicht wartet sie auf ihren Freund.
Wie auch immer, auf dich wartet sie jedenfalls nicht.

Das Mädchen nimmt die Mütze vom Kopf und schüttelt ihre Haare. Lang sind sie und leuchtend honigblond. Wie sie sich wohl anfühlen?

Hast du die Zigarettenmarke gewechselt?
Ja, die hier sind weniger stark.
Machst du dir Sorgen um deine Gesundheit?
Quatsch, aber meine Frau. Außerdem sind die billiger.
Das Mädchen raucht nie. Wie alt sie wohl ist?
Was weiß ich, vermutlich noch ein Kind. Irgendwann wird sie rauchen.

Jetzt steht der Baum in voller Blüte. Zarte Hände spielen mit einer von ihnen, die vom Baum gefallen ist. Ein leichter Duft zieht herüber, den auf dieser Seite keiner wahrnimmt. Er erstickt unter dem Rauch billiger Zigaretten.

Geht’s dir wieder besser?
Ja, war halb so wild. Das Herz macht langsam schlapp.
Schau, heute trägt sie ein Kleid. Das ist schön.
Du wirst noch sentimental auf deine alten Tage.
Sie ist so allein.
Vielleicht will sie allein sein, schon mal daran gedacht?

Am Himmel fliegen Wolken vorbüber, weiße, graue, nasse. Sie haben es eilig. Die Frau friert ein wenig und zieht die Schultern höher. Sie betrachtet lange ihre schmalen Hände, bevor sie diese tief in ihren Manteltaschen vergräbt.

Sie friert. Ob ich mal zu ihr rübergehe?
Was willst du da, du bist ein alter Sack, sie ein junges Ding.
Na, vielleicht hätte sie gern ein wenig Gesellschaft.
Bestimmt, aber nicht deine!
Du kannst echt ein Arsch sein.

Der Baum trägt jetzt Orange und tiefes Rot. Ein Rabe vertreibt sich die Zeit im Geäst. Die Frau auf der Bank schließt müde ihre Augen. Ihr Haar hat die Farbe von Spätsommerstroh.

Irgendwas liegt heut in der Luft. So schwer.
Entschuldige, das ist dieser verdammte Eintopf. Ich soll abnehmen, sagt der Arzt.
Wie sie da sitzt. Das macht mich fast traurig.
Sie sitzt da wie immer.
Eben, das ist es ja.

Eine Windböe greift nach den letzten Blättern, greift nach grauen Haaren und einem Wollschal, der dünne Schultern schützen will. Es riecht nach Schnee.

Entschuldigen sie, aber hier ist das Rauchen verboten.
Seit wann das denn?
Schon seit einiger Zeit. Sie waren wohl länger nicht hier?
Ja, scheint so.
Gehen sie doch da rüber in den Park auf die Bank. Dort können sie rauchen, wenn sie wollen.
Ach nein, der Park ist so verdammt leer ohne den alten Baum.

Hagelflieger sind keine Helden

schreibchenweise

Ein Sturm kündigt sich an, schickt Wolkentürme, Drohbriefe aus unruhigen Wassertropfen. Die Luft hustet, schreit, spuckt Energie, weint Schloße.

Gestern noch pflügte eine Cessna den Himmel, nahm ihm seine Gewalt. Wieder und wieder schickte sie Absender aus Silberjodid und Aceton an die Erpresser der Sphäre. Heute liegt sie gebrochen und mit gestutzten Flügeln am Boden. Stille und aufgewühlter Boden halten ihr die Totenwache, im Cockpit trocknet Blut. Hagelflieger sind keine Helden und dennoch retten sie Leben – das unzähliger Halme.

Tagebucheintrag, Sonntag, 29. Juli
Was hat das alles noch für einen Sinn, wenn die Farben um mich herum verblassen? Mein Kopf ist grauer Marmor, meine Gedanken welken und fangen an zu stinken. Das Oben ist nicht länger über mir. Das Unten reißt mich hinab. Ein Dazwischen gibt es nicht – nicht mehr, nicht für mich…

„Gab es keinen Notruf?“

„Nein, nichts dergleichen.“

“Habt ihr den Flugschreiber schon gefunden?“

„Keine Spur davon.“

“Scheiße, was war da los?“

Tagebucheintrag, Montag, 30. Juli
Was kommt danach, was war davor? Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Alles schwimmt davon, nur reißt mich der Strom nicht mit, sondern hinunter, zu Boden, den ich verliere. Er hat mich ausgehöhlt zurückgelassen. Leer. Ich sah den Strudel, sah den Sog, sah, wie er alles verschlang. Und stand nur da. So leer. So unfähig. So ich…

„Hat er mit dir darüber gesprochen?“

„Worüber, was meinst du?“

„Alles, einfach alles. Ihr seid doch Freunde gewesen, da redet man doch miteinander. Hat er nicht irgendetwas angedeutet?“

„Was willst du damit sagen? Es war ein Unfall!“

Zwanzig Jahre beherrschte er die Unwetter, die Stürme, die Wolken. Zwanzig Jahre zwang er sie, tränkenden Regen zu weinen statt mit vernichtenden Hagelkörnern auf die Ernte zu werfen. Zwanzig Jahre trug er nicht einen Kratzer davon – nicht am Himmel. Die Erde war sein Feind.

Tagebucheintrag, Freitag, 3. August
Jetzt ist sie fort. Ich muss bleiben. Hätte ich sie aufhalten, hätte ich es verhindern können? Wie? Wie? WIE?

„Hast du sie gekannt?“

„Ja, ein wenig. Ich mochte sie. Angenehme Person, irgendwie unscheinbar. Und irgendwie so präsent in ihrer Zurückhaltung.“

„Das widerspricht sich.“

„Ich weiß, aber genau so war sie.“

Tagebucheintrag, Samstag, 11. August
Die Wochenenden sind am schlimmsten. Ich ertrage es kaum. Nicht hier unten. Ich verfluche dich! Du Miststück, du hast aufgegeben, du lässt mich allein! Warum? Du kommst aus dem Nichts, fängst mich ein mit deiner Liebe und verschwindest wieder. Jetzt hänge ich fest, weiß nicht wo, kann mich kaum noch spüren. Bewegungsunfähig. Denkschwer. Müde. Mein Puls stolpert nur noch, lahmt, hinkt, will schlafen. Ich suche tausend Gründe, nicht zu stürzen und finde keinen einzigen…

„Jetzt ist es offiziell, es war Selbstmord.“

„Wer sagt das? Habt ihr die Black Box endlich gefunden?“

„Nein, aber alles deutet darauf hin. Der plötzliche Verlust, seine Niedergeschlagenheit, sein Rückzug. Außerdem hat er in zwanzig Jahren den Vogel und sich immer heile zu Boden gebracht, egal, wie das Wetter war. Glaub mir, es war Selbstmord.“

Letzter Tagebucheintrag, Freitag, 28. September
Die Traurigkeit frisst sich durch meinen Körper, aber ich gönn ihr den Fraß nicht. Nicht so, nicht heute, nicht morgen. Dich hat sie dahingerafft, mich bekommt sie nicht. Ich hab dich verflucht, weil du es nicht geschafft hast. Jetzt verfluche ich mich, dass ich so schwach bin, so brüchig. Du warst stark, stärker, als ich es je sein kann. Aber ich will es versuchen. Ich gehe nicht, ich fliege, und ich werde wieder landen, auch morgen und übermorgen…

Die Wolken verschlucken sich. Fünfzig Millionen Tonnen Wasser spucken dreihunderttausend Ampere an elektrischer Ladung gegen eintausendsechsundfünfzig Kilogramm Metall und ein paar Kilo Mensch. Zwanzig Jahre ergab das ein Unentschieden. Bis heute. Heute hagelt es. Und das nackte Orange der Black Box wirkt wie ein Fremdkörper in all dem Durcheinander.

Lemniskate

schreibchenweise

Was ist Unendlichkeit?

Das kann ich dir nicht beantworten. Aber ich sage dir, wie ich sie gezähmt habe.

Wie?

Ich gab ihr einen neuen Namen.

Da sitzt er, der alte Mann, flach die Atmung, tief die Falten. Sie erzählen Geschichten, sind Zeugen mancher Trauer und mancher Liebe, vieler Freuden und einiger Verluste. In seinen Augen schimmern dreiundneunzig Jahre Wissen, in seinem Herzen tobt die Sehnsucht nach der eigenen Endlichkeit.

Rosige kleine Finger ruhen in seiner braun-gefleckten Hand. Dreiundneunzig Jahre alte Haut wärmt, beruhigt, zittert matt und streichelt trocken. Ein neugieriges Gesicht schaut auf, zählt die Falten, fragt und staunt, verlangt ungeduldig nach Antworten. Müde Augen blicken hinunter in wache, der zahnlose Mund spricht leise und mit viel Geduld, der kleine steht weit offen und gibt eine Reihe unruhiger Milchzähne frei. Zähne, die sich erst noch durchbeißen müssen auf ihrem Weg. Der Alte ist seinen bereits gegangen. Und heute geht er ihn noch einmal, weit zurück, wird wieder jung, verliebt sich erneut, kämpft, tötet, beweint längst begrabene Freunde, spürt verheilt geglaubte Wunden, lebt ein zweites Mal. Dieses zweite Leben ist kürzer, schmeckt weniger süß und auch weniger bitter. Dieses zweite Leben wirft kleine Schatten an die Zimmerdecke und gibt der Unendlichkeit einen Namen, ein neues Gesicht, eines, das dem seinen ähnelt und es weiterträgt, bis es eigene Falten und Geschichten hat.

Da sitzt er, der alte Mann, flach die Atmung, tief die Liebe. Die Vergänglichkeit schmerzt, seine Geschichte ist erzählt – dreiundneunzig Jahre in einer Nacht, und mit ihr bricht auch seine Endlichkeit herein.

Und am Himmel geht der Mond auf

augenscheinlich, schreibchenweise

Gestern waren sie Liebende. Heute schlafen sie getrennt. Er im Garten hinter dem Haus, sie im Teich. Und am Himmel geht der Mond auf.

Sie lebte mit dem Einen und vergötterte den Anderen, seine zarte Erscheinung, seine Feingliedrigkeit, seinen scharfen Geist. Er trug eine Maske und versank unerkannt in ihr, in ihrem Haar, ihrem Geruch, in ihrer Scham. Bisweilen. Sie liebte ihn, wie er war, für das, was er war. Was er vorgab zu sein. Immer. Sie wollte ihn. Ganz. Er wollte sie, wie eine andere, die er nicht haben konnte. Nicht haben durfte. Niemals. In seinem anderen Leben verband ihn dieses kleine Mädchen mit zwei Menschen auf eine Art, die falsch war. In ihrem Leben verband sie zwei kleine Mädchen mit einem Mann, der keine Ahnung hatte. So viele Bindungen und doch kein Bund. Alle zerrissen. Alles verschlissen. Jeder belogen. Von jedem betrogen. Und am Himmel geht der Mond auf.

„Ich kann nicht mit dir leben.“

„Du willst nicht mit mir leben.“

Wenn Erdplatten aufeinander treffen, bilden sich Vulkane. Sie spucken Feuer, ergießen Lava und verglühen. Gebirge türmen sich auf, ragen in die Wolken, bersten, werfen Schatten, bröckeln und versinken im Meer aus Tränen. Bruchschollen fallen auf Granit. Tiefe Gräben bleiben zurück. Verschlucken das, was eben noch die Zukunft war. Und am Himmel geht der Mond auf.

„Ich werde gehen.“

„Dann gibt es kein zurück.“

Im Teich ertrinken die Fische. Drei blasse Seerosen verschließen sich stumm. Irgendwo in dieser Nacht tickt eine Uhr. Rückwärts, bis sie stehen bleibt. Die Erde im Garten hinter dem Haus ist aufgewühlt, ebenso das Herz, das noch eine Stunde schlägt. Dann schweigt auch das. Und am Himmel geht der Mond auf.

Seerosen

Im Rausch

Pösie für Lieb & Bösi, schreibchenweise

„Was willst du hier?“ Sie schaut zu ihm hoch, blinzelt gegen die Sonne.

„Ich will lieben.“ Antwortet er.

„Und was willst du dann von mir?“

Er zuckt nur die Schultern und lehnt sich gegen den Baum. In seinem Rücken zerfällt eine Stadt mit all ihren Strömungen. Es stinkt ein wenig von ihr herüber. Genug, um angewidert zu sein, zu wenig, um sich zu erbrechen. Im Baum sitzt kein Vogel, der kein Lied singt. Da scheißt nur eine Krähe die halbverdaute Rattenbrut wieder aus. Ein schwarzgraues Neozoon in einem halbgrünen Apfelbaum. In seinen Träumen trug er Blüten, der Baum. In ihren Träumen trug er Narben und der Baum schob seine Wurzeln in den Himmel. In der Stadt weint eine Ratte um ihre Jungen. Träumen Ratten?

„Ich werde dich erschießen.“ Lächelt sie ihn an.

„Wird das wehtun?“ Er setzt sich neben sie, stochert im Krähenkot, unterdrückt das Flackern in seinem Kopf.

„Nicht mehr, als der Verlust von Schamgefühl.“

Manchmal versteht er sie nicht. Das berauscht ihn, auch wenn es ungesund schmeckt. Heute kaut er nicht, er verschlingt sie einfach. Der Nachgeschmack kommt später, er wird süßlich sein. Wird sich über seine Zunge ergießen und die Stadt überschwemmen. Die Ratten werden quieken und sich verflüchtigen. In Panik werden sie sich wünschen, auf Krähen zu reiten. Unter dem Baum welkt der Frühling und der Sommer vergeht sich.

Er ist im Rausch, nicht mehr bei Sinnen
Sein Außen schält sich hart nach innen
Sein Kern zerflossen
Schuppt sich davon
Das Hirn erschossen
Weiß nicht, wovon

Sie hält den Colt, verfehlt nur selten
In ihm zerbrechen tausend Welten
Sein Kopf am Pfahl
Sein Herz am Galgen
Die Augen kahl
Die Brust voll Algen

Jetzt frisst der Boden seine Füße
Stößt sauer auf, kotzt bittre Süße
Sie spuckt nur Tränen
Er blutet aus
Dann muss sie gähnen
Und geht nachhaus

Im Waschsalon wird alles sauber

Pösie für Lieb & Bösi, schreibchenweise

Nur die Gedanken bleiben schwarz

Von oben flackert es. Vor ihm dreht es sich. Unter ihm fährt eine Metro. 21, 22, 23, 24… Schleudern. Spülen. Pumpen. Der Stuhl, auf dem er sitzt, ist hart, wie immer. Es riecht nach Sauberkeit und Bleiche. Kacheln an den Wänden, Kacheln an den Füßen, Kacheln in seinem Kopf, mit Fugen, die brechen und sich verstreuen. Ausgekrümelt werden sie sich in die Sohlen derjenigen eintreten, die versuchen, ihren Schmutz hier zu lassen. Im Waschsalon ist alles sauber – hinterher und drumherum. Und das Dazwischen stinkt. Münzen im Tausch gegen weißes Pulver. Blutspritzer auf anonymen Hemden im Tausch gegen weiße Kragen. Schwarze Erinnerungen im Tausch gegen weiße Gedanken.

Wahllos stopft er alles in eine Tasche, dreckige Socken, ausgeleierte Hosen, beschmierte Hemden, zerrissene Haut. Waschtag. Im Hausflur stehen Räder. Am Himmel stehen Wolken. Am Handgelenk steht seine Uhr. Sie hat es aufgegeben, gegen die Trägheit der Zeit zu rebellieren. Jetzt ist sie schmucklose Zierde, ein Relikt – keines, an dem Nostalgie klebt, einfach nur eines, das stumm nach Gewohnheit klingt. Die Schritte sind die gleichen wie jede Woche, 21, 22, 23, 24… Schleudern. Schwanken. Auffangen. Der Boden, auf dem er geht, ist hart, wie immer. Es riecht nach Winter und Salz. In der Häuserzeile vor ihm lockt ein Neonlicht. Es flackert. Weit aufgerissene Fensteraugen klimpern. Zu hektisch, Wärme schenkt andere Blicke. Die lässt sich besser trinken, füllt den Magen, stillt den Kopf.

Die Trommel schluckt, füllt sich, will sich fast erbrechen. Er füttert weiter. Von oben flackert es. Vor ihm dreht es sich. Neben ihm der Stuhl ist leer… 25, 26, 27, 28, 45 Minuten später ist alles sauber, gespült, gestärkt. Die Trommel spuckt, er atmet Chlor. Unter ihm fährt eine Metro. 46, 47, 48… Wochen ist es her, dass ihre Tür sich schloss. Im Hausflur standen Nachbarn. Am Himmel stand eine Sonne. In seinem Magen stand seine ganze Welt. Stille im Tausch gegen laute Worte. Gefühle im Tausch gegen Blei. Ein Karton voller Bücher im Tausch gegen leere Wände. Auf einem Zettel starben Worte … 34, 35, 36, 37

Wir verlieren uns
Ganz still, ganz leise
In der Zeit, die wir
Nicht teilen

Wir entfernen uns
Rasend langsam
In dem Raum, der uns
Nicht bleibt

Wir vergessen uns
Werden blasser
Und verschwinden
Wie Bleistift auf Papier

Der Florist

schreibchenweise

Liebe blüht auf unterschiedliche Art. Ihre Farben nuancieren von tiefem Burgunder über leuchtendes Karmesin bis zu pudrigem Blass. Immer jedoch duftet sie atemberaubend.

Sie wirkte so zart, so weiß und so unschuldig. Ihre Hände schienen wie geschaffen, um durch weiches Katzenfell zu streunen, im Vorbeigehen wippende Köpfe langhalsiger Gräser zu liebkosen, sanft über einen aufgeregten Mund zu streichen. Jetzt ruhten sie sauber gefaltet, schwebten über ihrer kalten Scham auf schwarzem Seidenlaub.

Er weinte, als er sie so betrachtete. Nicht um sie. Nicht um ihre Jugend. Nicht um ihren Tod und dessen Unendlichkeit. Er weinte um sich selbst, weil er sie nie würde lieben dürfen. Er hatte sie nackt gehalten, sie sorgfältig gewaschen, sie getrocknet, gecremt und ihr den Tod aus den steifen Gliedern massiert. Er hatte all ihre kleinen Schlupflöcher mit Watte versiegelt, damit nichts von ihrem Inneren verloren ginge. Er hatte ihr das Haar geföhnt und in sanften Wellen um das blasse Antlitz gestaltet. Ihren Lippen hatte er ein wenig Leben aufgehaucht – nicht mit einem Kuss. Das wagte er nicht. Um ihren Hals hatte er ihre silbergliedrige Schlinge gelegt, auf ihrem Herzen schlief nun ein Aquamarin, blassblau, wie ihre Augen hinter den durchschimmernden Lidern. Auf ihre Schläfen hatte er zwei Tropfen Cacharel geatmet. Sie vertrieben die letzte Aufdringlichkeit des Desinfektionsmittels und verströmten einen Hauch aus Frühlingssonne und Heuboden. Dann hatte er ihr ins Kleid geholfen, hatte sie weich gebettet in ihrem hölzernen Setzkasten, hatte ihr Haar erneut gerichtet, ihre Nägel poliert und ihre Hände gefaltet.

Zwei Tage später flüsterte jemand in der Kapelle, sie sähe aus, als würde sie blühen.

212

schreibchenweise

Und er lächelte, als er dich so liegen sah, mit diesem fadenscheinigen Rinnsal, das aus deinen Wangen kroch. Es roch nach Erdbeeren und Leid, nach welken Gedanken und schalem Schmerz. In einem Käfig sang ein Vogel nicht mehr. In deinem Mund erbrach sich Leben. In deinen Augen starb das Blau vor sich hin. Er hielt noch immer das Messer in deinem Herzen, da warst du schon lange fort. Ein Flüchtling in Phantasien. Während er an deinem Blut leckte, kroch dein Geruch bereits die Wände hinauf, 212, ergoss sich über dem Himmel in dir. Hässlichkeit ist keine Frage der Betrachtung, sie zahlt Miete, lenkt deine linke Hand. Und als der Mond erwachte, da ging er einfach aus der Tür.

Der neue Tag beginnt ohne dich. In einem Laden an der Ecke wird ein neues Messer gekauft. Tot. In einem Laden daneben ein neues Herz. Schlag. Und er lächelt noch immer, „… was für eine beschissene Farbe hatte diese Tür!“

 

Tangente für eine Nacht

schreibchenweise

Kaffeekrusten zieren sein Gesicht, bilden Ringe unter den Augen. Sie schlafen offen, kundig, und starren dabei in den Rauch. Bitte nicht stören steht auf seinen Lidern, nur sieht das niemand. Hätte er noch Atem, er würde ihn verschenken. Nun stinkt sein Hals. Nach Kippen. Nach Kaffee. Nach Magensaft und rezeptfreien Mitteln gegen Sodbrennen. Draußen ist es hell. In ihm schwitzt Dunkelheit. Sie kriecht durch Hautkanäle und verseucht sein Hemd. Weiß kann viele Farben haben. Schwarz schmeckt immer gleich. Rot ist versiegt.

Am Himmel glotzte der Mond. Feuchte Straßen zogen feine Linien über die Welt. Tangenten möchte man sie nennen, doch berührten sie niemanden. Passanten, die flüchteten. Flüchtigkeitsfehler. Jede Lebendigkeit hatte sich verkrochen. Manche Nächte sind nicht von dieser Welt. Manche Welten versinken in einer Nacht.

Seine Welt war heil, so heil wie ein angebissener Keks. Sie krümelte ihm vor die Füße, doch jeder Bissen schmeckte süßer. Er war Tangente für eine Nacht, sie die Kurve. Ihr Berührungspunkt schnitt tief. Adern stellen keine Fragen, sie bluten einfach aus. Verschenken sich. Verkrusten langsam. Verstummen irgendwann.

Sie sprach nicht zu ihm in dieser einen Nacht. Er antworte stumm. Auf ihre Bewegungen, die ihn an Abgründen wandeln ließen, auf ihren Blick, der bohrende Liebkosung war. In Gedanken wurde Jetzt zu Ewig. Unendlichkeit trägt schöne Kleider, darunter ist sie nackt. Er verglühte an ihr. Im Innern. Sie vergab sich an ihm, nur äußerlich. Manche Menschen sind nicht von dieser Welt. Manche Welten vergehen an einem Menschen.

Als sie ging, nahm sie ihn mit. Zurück blieb seine Hülle und das Schild an der Tür. Bitte nicht stören stand darauf. Ohne sie lag sein Leben leer vor seinen Füßen. Zusammengefegt. Einsamkeit, er wollte sie zertreten. Ihr Geruch hing noch immer schwer in der Luft, erdrückte ihm das Atmen. Er wollte ihn versiegeln, in sich, im Jetzt und in der Ewigkeit.

Die Plastiktüte von seinem Kopf ist bereits entfernt, als sie in wiedersieht. Er liegt kalt, das Blau seiner Augen verschlossen, die Adern sind ausgetrockneter Fluss. Sie nickt und geht. Tangente für eine Nacht, jetzt kennt sie seinen Namen.

„Eine Tangente kann in der Regel nur existieren, wenn die zugrunde liegende Funktion differenzierbar ist.“

„Als Differenzierbarkeit bezeichnet man die Eigenschaft einer Funktion, sich lokal um einen Punkt in eindeutiger Weise linear approximieren zu lassen.“

„Approximation ist zunächst ein Synonym für Näherung.“

… und Nähe war für ihn nur eine Idee.

Quelle Zitate: Wikipedia

Andy war hohl

schreibchenweise

… aber er liebte seine Tomatensuppe, die ihn besonders an Tagen der Einsamkeit und Stille an die einzige Frau in seinem Leben erinnerte, die ihn glücklich machen konnte.

Er konnte wirklich nichts dafür, seine Mutter war Schuld. Als Andy noch ganz klein war, da sagte sie immer zu ihm: „Schatz, das musst du nicht wissen. Es reicht, wenn ich das weiß. Wenn du groß bist, dann ergibt alles schon einen Sinn.“ Und irgendwann gab Andy das Fragen auf und wuchs mit dem sicheren Gefühl der Pubertät entgegen, dass Mutti ihm schon sagen würde, wenn irgendetwas nicht stimmte. Oder wenn irgendwann der Sinn fehlte. Oder wenn er irgendwas oder irgendwen besser nicht anfassen sollte. Oder wenn er irgendwo besser nicht hinschauen oder hinhorchen sollte. So verschwanden allmählich die Worte der Neugier, dieses ständige Wieso, Weshalb und Warum, aus Andys Sprachgebrauch und an ihrer Stelle nistete sich Stille in seinem Kopf ein. Diese geistig-blasse Unberührtheit führte dazu, dass Andy unbeholfen aber glücklich wirkend durch seine Kindheit und Jugend tappte. Mitmenschen, die Andy nicht kannten, sagten hinter vorgehaltenen Händen, hinter vergilbten Gardinen und hinter flüchtig gestrichenen Wänden: Andy war hohl.

Ein wenig hatten sie wohl recht damit. Er war kein Genie oder Hochleistungssportler, wie sie in China geboren gezüchtet wurden. Er war auch kein Künstler, er trug weder eine exzentrische Frisur noch hatte er ein Gespür für Ästhetik. Er konnte weder malen noch singen noch sonst irgendwie musizieren noch schöne Skulpturen basteln. Hätte er geahnt, dass man allein durch die Abbildung einer Dose Tomatensuppe die Menschen begeistern könnte und sie einem dadurch Achtung und Respekt entgegenbringen würden, weil man etwas ganz Besonderes geschaffen hatte – weil man jemand ganz Besonderes war – er hätte vielleicht doch die ein oder andere Frage gestellt, er hätte vielleicht doch versucht, den ein oder anderen Zusammenhang zu begreifen und Rückschlüsse daraus zu ziehen. Das tat er nicht. Er aß still und geduldig die Tomatensuppe seiner Mutter, stippte Brot hinein, wunderte sich nicht, dass dieses erst schwamm und dann vollgesogen unterging um – wartete er zu lange – zu undefinierbaren Klumpen zu zerfallen und sich vollends aufzulösen. Er fragte auch nicht, warum es brannte, wenn er die kochend heiß servierte Suppe schluckte oder warum seine Mutter manchmal weinte, wenn sie sich nach dem Abwasch der Tomatensuppenteller allein in ihr Zimmer zurückzog und sich selbst Ohrfeigen gab, die dumpf klatschend durch die halb geschlossene Tür in den Flur schlichen.

Andy war hohl, das stand für alle fest, nur für seine Mutter nicht. Für sie war er etwas ganz Besonderes. Denn eines konnte Andy besser als all die Kinder seiner Schule und das war etwas, was neben den Lehrern auch seine Mutter sehr an ihm schätzte. Andy konnte stillsein und stillsitzen wie niemand sonst. Während andere plapperten, zappelten oder unentwegt etwas kaputt machten, während sie rannten, tobten, sich rauften und sich in ihrem jugendlichen Kräftemessen gegenseitig die Fäuste, Bäuche, Muskeln und Intimbereiche zeigten, saß Andy einfach nur da und… wartete. Andy wartete darauf, dass er endlich groß wurde und alles einen Sinn ergab, genau so, wie seine Mutter es ihm immer zu prophezeien pflegte.

„Hey, Schwachkopf! Du Hohlbirne, was sitzt’n da so dämlich rum? Auf was wartest’n? Auf die Zahnfee, dass die dir endlich mal einen runterholt?“

Andy kümmerte sich nicht weiter um solche Zurufe. Er hatte sich daran gewöhnt und auch daran, dass sie ihn wieder in Ruhe ließen. Sein stoisches Nichtreagieren auf jegliche Umwelteinflüsse oder menschliche Aufmerksamkeiten ließen ihn unantastbar werden. Es schien fast so, als hätte sich mit der Zeit um Andy eine Art Glocke gebildet, durch die keinerlei schulkindliche Angriffe zu ihm durchdrangen und durch die auch keinerlei Emotionalität mitteilsam nach draußen gelangte. Und irgendwann machten alle einen Bogen um Andy und ließen ihn das sein, was er war: ein stiller, nichtssagender Junge mit leerem Blick, der auf etwas oder jemanden zu warten schien. Das war gut. Er mochte es zu warten. Er mochte es, dass sich in seinem Kopf Milchglasstimmung ausbreitete. Und er mochte seine heiße Tomatensuppe mit Brotstippe, die er jeden Abend von seiner Mutter serviert bekam, auch wenn sie danach weinte.

Eines Tages war Andy 17. Es ging so schnell, dass seine Mutter einen Schreck bekam, als es soweit war. An Andys Waden sprossen dunkle Haare, sein Gesichtsausdruck wurde markanter, genau wie sein Geruch. Andy war noch immer hohl im Kopf, doch in seinem Körper regte sich dafür umso mehr Leben – Empfindungen, die er nicht einzuordnen, geschweige denn zu unterdrücken wusste. Das Stillsitzen fiel ihm zusehends schwerer und das Milchglas im Kopf wich einem kehligen Brummen, dessen Vibrationen sich bis hinab in seine Lenden schlichen.

Andys Mutter missfiel diese Veränderung ihres einzigen Sprosses, die selbst sie nicht aufzuhalten vermochte. Und sie hatte sich solche Mühe gegeben. An einem Donnerstag setzte sie darum zum unvermeidbaren Gespräch an. Dieser ungewohnte Ausflug in die Welt der Kommunikation irritierte Andy so sehr, dass er sich an einem Tomatensuppenstippbrotstückchen verschluckte, stark zu husten begann und sowohl Tomatensuppe als auch Brotstücken aus dem Mund zurück auf den Tisch und dort quer über Tischlaken und Geschirr verteilte. Zugegeben, vorher sah das abendbrotliche Arrangement etwas schöner aus.

„Ich weiß, das kommt jetzt überraschend, aber ich muss dir etwas erklären.“

Andy starrte seine Mutter mit offenem Mund an. Aus seinem Mundwinkel troff rote Stippe. Seine Augen spiegelten Verstörung. Während sie nach den richtigen Worten suchte, wischte Andys Mutter das verhustete Übel ihres Sohnes so gut es eben ging von der blütenweißen Jungfräulichkeit des Tisches.

„Du bist jetzt kein Kind mehr. Du bist fast so etwas wie…“ Sie stockte. „… wie ein Mann. Und, nun ja, als solch ein Mann wirst du wohl oder übel solch männliche Gefühle entwickeln, die…“ Und wieder suchte sie nach dem richtigen Vokabular, das ihr nicht so recht über die Zunge kommen wollte. Sie holte tief Luft und stieß den Rest des Satzes so stark und schnell hervor, dass Andy ein weiteres Mal geräuschvoll husten musste. „… im Geschlechtsakt mit einer Frau enden könnten.“

Und dann geschah etwas sehr Ungewöhnliches, etwas, das Andys Mutter als ausgestorben wähnte. Ihr Sohn stellte eine Frage.

„Was ist Geschlechtsakt?“

Das Geräusch, das auf diese Frage folgte, verankerte sich als sehr unangenehm in Andys Kopfstille. Es klang wie ein erwürgtes Schreien gefolgt von einem dumpfen Aufprall, dem ein Scheppern nachsprang. Als wieder Stille herrschte hing Andys Mutter in einer grotesken Pose inmitten von zerbrochenem Geschirr auf einem nicht mehr weißen Tischlaken eine Suppenschüssel umklammernd und verdrehte die Augen.

Andy saß nur da. Und wartete. Er wartet noch immer. Nur seine Jacke ist heute etwas eng und die Schnallen am Rücken drücken. Aber die Wände sind so herrlich milchig und es ist still, wie in seinem Kopf. Andy war glücklich.

An meinem Fenster

schreibchenweise

Du sollst nicht über Gullies geh’n, du sollst nicht in den Abgrund seh’n. Und wenn, dann nimm den Falco mit.

Regen peitscht bösartig die Straße, drischt wie eine kätzische Domina auf den Asphalt. Die Tropfen am Ende jeder Nasspeitsche zerplatzen. Und sterben. Unter der Straße zerrt ein Rauschen am Gehör. Die Unterwelt ist schwarzer Fluss. Ratten suchen nach einer rettenden Arche, Plastik verwirbelt sich ziellos in gurgelnden Strudeln. Staub ertrinkt. Oben weint die Nacht. Himmel und Horizont kopulieren während in den Häusern das Schweigen brüllt. Kaum ein Licht, keinerlei Herzschlag, Lebendigkeit „träuft mit Mozambin“  dahin und beginnt zu stinken.

Nur bei ihm ist Licht. Er blickt aus hohlen Augen, die in einem schönen Kopf stecken. Noch. Makellose Körper verkaufen sich besser. Für Intelligenz bezahlt kaum einer, wenn der Schwanz zu klein ist. Und es plaudert sich so schwer mit vollem Mund. Dieser ist so schön, so voll, so zartlippig, mit einem Zungenspiel, das bekannt, begehrt, berüchtigt fast. Ungedruckte Flugblätter zitieren seinen Namen von Ohr zu Ohr. Männer und Frauen verlangen nach ihm, auch weil er – oben wie unten, von hinten wie von vorne – eine Zier ist. Eine Gier ist. Weil er willig ist. Weil er billig ist. Noch.

Ich beobachte ihn und ihn und sie und ihn, sie alle, wie sie sich reiben, lutschen und winden, wie Zähne sich in Fleisch bohren, wie Brüste an Schwänzen ziehen, Zungen sich in welke Blüten schieben, wie alte Lenden auf pralle Ärsche klatschen. Ein Geräusch, genau wie das der Regenpeitschen. Draußen. Auf der Straße. An meinem Fenster. Ich wünsche mir die Nacht endlos. Ich bin in Raum und Zeit gefangen.

Die Gosse schläft nicht. Sie hält nur manchmal still, einen Moment lang, einen Zeigerschlag vielleicht, mehr nicht. Keine Zeit für Zeugen. Im Boden klafft jetzt ein Loch, das den Urin der Regenstraße schluckt, sich ergießt wie „die Donau außer Rand und Band“. Auf ihr schwimmt ein Schuh, stürzt sich hinab, wird Ratte mit zwei Senkelschwänzen. Der Gullydeckel gilt als vermisst, der Jüngling nicht. „Der hat sich verpisst!“ – schreit’s durch die Nacht. Ich schweige.

Mein Fenster bleibt leer, starre nur auf Wachs. Himmel und Horizont verlieren sich aus den Augen. Müde. Unter der Stadt liegt der Tod. Sein Mund war so schön, so voll, so zartlippig. Jetzt fehlt ihm ein Schuh.

Ich brenne für dich!

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Valentinstag – kein Tag für verirrte Pralinen aus denen räudige Tauben bereits die Rosinen gepickt haben.

Mit Tränen in den Augen starrt sie auf den schwarzen Fleck, der sich vor ihr krümmt. Sie weint nicht. Ihre Augen reagieren nur auf das Schwelen. Es stinkt, süßlich, hautig, sterbend. Sie denkt an verwahrlostes Blumenwasser. Sie denkt an gammliges Obst. Sie denkt an herrenlose Pizzareste und die Nachgeburt einer Straßenhündin. Sie denkt nicht an ihn.

Ich brenne für dich!

Er war ein hübscher Kerl, hatte ein süßes Lächeln, einen knackigen Hintern. Er war etwas jung vielleicht, aber unverbraucht. Er war keiner dieser coolen Typen, die sich in Bars rumdrückten um Mädchen abzuschleppen. Er war keiner von denen, die gerne damit prahlten, dass sie letzte Nacht wieder zum Schuss gekommen waren ohne auch nur einen Finger zu krümmen. Er sammelte auch keine vergessenen Ohrringe, getragenen Höschen oder Telefonnummern. Nein, er war irgendwie anders. Er war nett.

Sie war es nicht. Sie war ein Miststück. Sie spielte gerne mit dem Feuer. Warum? Das wusste sie selber nicht so genau. Wahrscheinlich war sie einfach nur gelangweilt. Gelangweilt vom Überfluss, von überquellender Farbigkeit, von maßlosen Standards, gelangweilt von geschriebenem Lärm und vertontem Schmerz, gelangweilt von recycelten Massen und individualisierten Uniformen. Sie war gelangweilt von sich selbst.

Und dann traf sie auf ihn, nicht in der Bar, auch nicht auf einer Party. Sie traf ihn einfach so auf der Straße, und es ergoss sich so etwas wie Liebe über den Asphalt. Seine Gegenwart füllte für einen Moment von 97 Tagen Honig in ihre Waben. Sie leckte ihn auf, gierig, unverschämt, exzessiv. Dann war der Honig verbraucht und seine kläglichen Reste verklebten ihr den Kopf. Sie war angewidert, er wollte noch immer Nektar sammeln und Honigtau in sie gießen.

Am Tag 98 entklebt sie sich während er seine Liebe entzündet – mit nur einem Streichholz, mit nur einem Kanister, direkt vor ihren Augen.

Ich brenne für dich!

Ausgehungert

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Georg senkt den Blick. Er ist müde. Seine Haare sind es auch. Einige von ihnen hatten sich bereits vor Jahren beiseite gelegt. Ein paar halten die Stellung, genau wie Georg. Er möchte sich auch einfach nur beiseite legen. Noch steht er. Ruth liegt bereits; vor ihm; tot; in einem Sarg. Der ist nicht schön, genau wie Ruth. Ruth war weder schön noch besonders nett gewesen als sie noch lebte, und dennoch ist Georg all die Jahre bei ihr geblieben. Auch jetzt ist er bei ihr. Georg legt seine Hand auf den Sarg. Seine Hand ist nicht schön, nur weiß und ganz dürr.

„Du musst schon richtig zupacken, sonst macht das Huhn, was es will. Herr Gott, jetzt greif doch mal richtig zu! Du bist zu lasch. So wird das nichts. Lass mich mal. Ohne mich würdest du irgendwann verhungern.“

Ruth konnte zupacken. Keine Minute später hörte das Huhn auf zu zappeln. Georg stand schon lange still daneben. Es roch nach Blut. Es schmeckte nach Blut. Georg hatte sich auf die Zunge gebissen während Ruths Beil den Hühnerkopf vom Hühnerrumpf trennte. Später roch es nach Suppe. Kleine Fettaugen schwammen träge in Georgs Schüssel. Hühnertränen.

„Jetzt iss schon, sonst wird sie kalt. Was starrst du denn so in die Schüssel? Du sollst die Suppe essen und nicht hypnotisieren.“

Schweigend aß Georg die Suppe. Sie schmeckte nach Suppe, nach Huhn, nach Möhren und Maggi. Sie schmeckte nicht nach Blut, auch nicht nach Tränen. Die Suppe brannte etwas auf seiner Zunge. Georg dachte an das Huhn.

In der Kapelle verklingt die Musik, und die Sargträger schwitzen als sie Ruth über den Friedhof zu der Stelle bringen, die später ihren Namen tragen wird. Ein Name, zwei Daten, drei Zeilen, gehauen in einen schwarzen Stein, vier schwitzende Sargträger in schwarzen Anzügen – drei von ihnen sind ein wenig zu feist. Ihre Anzüge spannen. Georgs Anzug spannt nicht, denn Georg ist schmal, sehr schmal. Und Georg friert.

„Du musst mehr essen, du bist ja nur noch ein Strich im Gelände. So sieht doch kein richtiger Mann aus. Die Nachbarn werden denken, ich sei unfähig, meinen Mann zu bekochen. Und von der Bewegung kann’s ja nicht kommen, dass du immer dürrer wirst. Du bewegst dich ja kaum. Stehst immer nur dumm im Weg rum. Mach dich nützlich, mäh doch mal den Rasen. Ich kann doch nicht alles selber machen. Ohne mich würde uns der Rasen bald über den Kopf wuchern.“

Georg mähte den Rasen. Am Abend gab es aufgewärmte Hühnersuppe. Sie schmeckte noch immer nach Huhn, Möhren und nach noch mehr Maggi. Georg mochte kein Maggi. Er musste davon aufstoßen und empfand das als sehr unangenehm. Ruth empfand ihn dann als sehr unangenehm. Dann musste Georg in den Garten gehen und trockenes Brot essen, damit sich sein Magen beruhigte und damit Ruth nicht ständig den Geruch von aufgestoßener Hühnersuppe um sich hatte. Aber das war nicht so schlimm. Georg saß gerne im Garten. Manchmal teilte Georg sein Brot mit den Hühnern. Und dann dachte er darüber nach, dass er dieses Brot irgendwie zweimal aß. Seinen Magen beruhigte das nicht.

„Musst du das Brot an die dummen Hühner verfüttern? Also dafür hab ich es nicht gebacken. Wenn du so weiter machst, sind die Hühner irgendwann fetter als du.“

Der Sarg sinkt in die ausgehobene Erdmulde. Eine Frau aus der kleinen Trauergruppe schnieft und tupft sich mit übertriebener Geste die Augen trocken. Hühnertränen, denkt Georg.

Immer wenn Georg im Garten saß und mit den Hühnern sein Brot teilte, dann dachte er an seine Mutter. Sie war nicht wie Ruth. Sie war eine nette Frau gewesen. Sie hatte mehr gelacht und weniger Hühner geschlachtet. Wenn Georg als kleiner Junge mit einer Blessur nach hause kam, dann klebte sie ein Pflaster drauf und sagte, „Bis du heiratest, ist das wieder verheilt.“ Sie hatte recht. Genau wie Ruth.

„Jetzt stell dich nicht so an. So eine kleine Schramme hat noch keinen Mann umgebracht. Wenn ich bei jeder Schramme, die mir das Leben zugefügt hat, so ein Getue machen würde, dann würde ich aus dem Jammern gar nicht mehr herauskommen.“

Der Gemeindepfarrer spricht ein paar Worte, die er von einem Zettel abliest. Georg hatte ihm am Vortag einige Stichpunkte zu Ruths Leben gegeben. Jetzt bettet der Pfarrer diese Stichpunkte in viele nette Adjektive. Georg muss aufstoßen. Es schmeckt nach leerem Magen und nach Maggi.

Seit Wochen wuchert nun schon der Rasen auf Ruths Grab und im Garten. Die Hühner sind glücklich darüber, es läuft sich so schön. Nur das Brot vermissen sie. Georgs Brot. Georg vermisst niemand.

Die Magie der heruntergekommenen Hüfte

Pösie für Lieb & Bösi

Es dröhnt und knackt
Und wackeln tut es ebenso
In ihm
Laut und dumpf und schmerzhaft
Der alte Mann einst lebensfroh
Nun bröckelt seine Lebenskraft
Rillen im Gesicht und Töne aus dem Hintern
Am Ende macht der Körper, was er will
Mit ihm
Krumm die Beine, Keulen einst
Kein Zauber mehr im grauen Star
Müde Lider, wo früher Leuchten war
Und Hände zittern in kalten Wintern

Doch: im Kopf ein Feuer an Gedanken
Schöne, edle, auch Dreck und Moos
Da paart sich Freude mit Mordgelüsten
Nebst Kochrezepten von Gans mit Klos
Von ihr
Die Brust ihm bebt, die Augen funkeln
Der schlaffe Arsch vor Spannung zuckt
Wenn jetzt das Herz ihm stehen bliebe
Vor Glück
Als die Erinnerung an Liebe
Als Blick ins Land, das weit zurück
Voll Schweiß und blumig-zarter Düfte
Schwappt auf und glüht ein letztes Mal
Die Magie der heruntergekommenen Hüfte

Böse Schlange

Pösie für Lieb & Bösi

Es war einmal ein Knabe,
der hatte eine Gabe:
Herzen brechen, Seelen blenden.
Doch gab es niemand, der konnt’ beenden
dies böse Treiben.

Dann kam da diese Schlange,
die wartete schon lange
auf solch Gelegenheit zum Biss –
schnappte, würgte ihn und riss
das Herz ihm aus dem Leib.

Jetzt irrt der Junge ohne Leben,
kann niemals wieder Liebe geben,
kann nur noch taumeln – leer und taub,
wie herbstlich-öde welkend Laub.
Selbst Schuld!

… oder doch noch heilbar?