Und am Himmel geht der Mond auf

augenscheinlich, schreibchenweise

Gestern waren sie Liebende. Heute schlafen sie getrennt. Er im Garten hinter dem Haus, sie im Teich. Und am Himmel geht der Mond auf.

Sie lebte mit dem Einen und vergötterte den Anderen, seine zarte Erscheinung, seine Feingliedrigkeit, seinen scharfen Geist. Er trug eine Maske und versank unerkannt in ihr, in ihrem Haar, ihrem Geruch, in ihrer Scham. Bisweilen. Sie liebte ihn, wie er war, für das, was er war. Was er vorgab zu sein. Immer. Sie wollte ihn. Ganz. Er wollte sie, wie eine andere, die er nicht haben konnte. Nicht haben durfte. Niemals. In seinem anderen Leben verband ihn dieses kleine Mädchen mit zwei Menschen auf eine Art, die falsch war. In ihrem Leben verband sie zwei kleine Mädchen mit einem Mann, der keine Ahnung hatte. So viele Bindungen und doch kein Bund. Alle zerrissen. Alles verschlissen. Jeder belogen. Von jedem betrogen. Und am Himmel geht der Mond auf.

„Ich kann nicht mit dir leben.“

„Du willst nicht mit mir leben.“

Wenn Erdplatten aufeinander treffen, bilden sich Vulkane. Sie spucken Feuer, ergießen Lava und verglühen. Gebirge türmen sich auf, ragen in die Wolken, bersten, werfen Schatten, bröckeln und versinken im Meer aus Tränen. Bruchschollen fallen auf Granit. Tiefe Gräben bleiben zurück. Verschlucken das, was eben noch die Zukunft war. Und am Himmel geht der Mond auf.

„Ich werde gehen.“

„Dann gibt es kein zurück.“

Im Teich ertrinken die Fische. Drei blasse Seerosen verschließen sich stumm. Irgendwo in dieser Nacht tickt eine Uhr. Rückwärts, bis sie stehen bleibt. Die Erde im Garten hinter dem Haus ist aufgewühlt, ebenso das Herz, das noch eine Stunde schlägt. Dann schweigt auch das. Und am Himmel geht der Mond auf.

Seerosen