Ausgehungert

schreibchenweise

Georg senkt den Blick. Er ist müde. Seine Haare sind es auch. Einige von ihnen hatten sich bereits vor Jahren beiseite gelegt. Ein paar halten die Stellung, genau wie Georg. Er möchte sich auch einfach nur beiseite legen. Noch steht er. Ruth liegt bereits; vor ihm; tot; in einem Sarg. Der ist nicht schön, genau wie Ruth. Ruth war weder schön noch besonders nett gewesen als sie noch lebte, und dennoch ist Georg all die Jahre bei ihr geblieben. Auch jetzt ist er bei ihr. Georg legt seine Hand auf den Sarg. Seine Hand ist nicht schön, nur weiß und ganz dürr.

„Du musst schon richtig zupacken, sonst macht das Huhn, was es will. Herr Gott, jetzt greif doch mal richtig zu! Du bist zu lasch. So wird das nichts. Lass mich mal. Ohne mich würdest du irgendwann verhungern.“

Ruth konnte zupacken. Keine Minute später hörte das Huhn auf zu zappeln. Georg stand schon lange still daneben. Es roch nach Blut. Es schmeckte nach Blut. Georg hatte sich auf die Zunge gebissen während Ruths Beil den Hühnerkopf vom Hühnerrumpf trennte. Später roch es nach Suppe. Kleine Fettaugen schwammen träge in Georgs Schüssel. Hühnertränen.

„Jetzt iss schon, sonst wird sie kalt. Was starrst du denn so in die Schüssel? Du sollst die Suppe essen und nicht hypnotisieren.“

Schweigend aß Georg die Suppe. Sie schmeckte nach Suppe, nach Huhn, nach Möhren und Maggi. Sie schmeckte nicht nach Blut, auch nicht nach Tränen. Die Suppe brannte etwas auf seiner Zunge. Georg dachte an das Huhn.

In der Kapelle verklingt die Musik, und die Sargträger schwitzen als sie Ruth über den Friedhof zu der Stelle bringen, die später ihren Namen tragen wird. Ein Name, zwei Daten, drei Zeilen, gehauen in einen schwarzen Stein, vier schwitzende Sargträger in schwarzen Anzügen – drei von ihnen sind ein wenig zu feist. Ihre Anzüge spannen. Georgs Anzug spannt nicht, denn Georg ist schmal, sehr schmal. Und Georg friert.

„Du musst mehr essen, du bist ja nur noch ein Strich im Gelände. So sieht doch kein richtiger Mann aus. Die Nachbarn werden denken, ich sei unfähig, meinen Mann zu bekochen. Und von der Bewegung kann’s ja nicht kommen, dass du immer dürrer wirst. Du bewegst dich ja kaum. Stehst immer nur dumm im Weg rum. Mach dich nützlich, mäh doch mal den Rasen. Ich kann doch nicht alles selber machen. Ohne mich würde uns der Rasen bald über den Kopf wuchern.“

Georg mähte den Rasen. Am Abend gab es aufgewärmte Hühnersuppe. Sie schmeckte noch immer nach Huhn, Möhren und nach noch mehr Maggi. Georg mochte kein Maggi. Er musste davon aufstoßen und empfand das als sehr unangenehm. Ruth empfand ihn dann als sehr unangenehm. Dann musste Georg in den Garten gehen und trockenes Brot essen, damit sich sein Magen beruhigte und damit Ruth nicht ständig den Geruch von aufgestoßener Hühnersuppe um sich hatte. Aber das war nicht so schlimm. Georg saß gerne im Garten. Manchmal teilte Georg sein Brot mit den Hühnern. Und dann dachte er darüber nach, dass er dieses Brot irgendwie zweimal aß. Seinen Magen beruhigte das nicht.

„Musst du das Brot an die dummen Hühner verfüttern? Also dafür hab ich es nicht gebacken. Wenn du so weiter machst, sind die Hühner irgendwann fetter als du.“

Der Sarg sinkt in die ausgehobene Erdmulde. Eine Frau aus der kleinen Trauergruppe schnieft und tupft sich mit übertriebener Geste die Augen trocken. Hühnertränen, denkt Georg.

Immer wenn Georg im Garten saß und mit den Hühnern sein Brot teilte, dann dachte er an seine Mutter. Sie war nicht wie Ruth. Sie war eine nette Frau gewesen. Sie hatte mehr gelacht und weniger Hühner geschlachtet. Wenn Georg als kleiner Junge mit einer Blessur nach hause kam, dann klebte sie ein Pflaster drauf und sagte, „Bis du heiratest, ist das wieder verheilt.“ Sie hatte recht. Genau wie Ruth.

„Jetzt stell dich nicht so an. So eine kleine Schramme hat noch keinen Mann umgebracht. Wenn ich bei jeder Schramme, die mir das Leben zugefügt hat, so ein Getue machen würde, dann würde ich aus dem Jammern gar nicht mehr herauskommen.“

Der Gemeindepfarrer spricht ein paar Worte, die er von einem Zettel abliest. Georg hatte ihm am Vortag einige Stichpunkte zu Ruths Leben gegeben. Jetzt bettet der Pfarrer diese Stichpunkte in viele nette Adjektive. Georg muss aufstoßen. Es schmeckt nach leerem Magen und nach Maggi.

Seit Wochen wuchert nun schon der Rasen auf Ruths Grab und im Garten. Die Hühner sind glücklich darüber, es läuft sich so schön. Nur das Brot vermissen sie. Georgs Brot. Georg vermisst niemand.