Hendrik, der Ranger

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Kinder brauchen schließlich Vorbilder (2)

Schon als Hendrik noch ein ganz kleiner Junge war, träumte er von den unendlichen Weiten, so wie viele in seinem Alter. Damit hatte es sich dann auch mit der Gemeinsamkeit, die Hendrik mit den Meisten seiner gleichaltrigen Weggefährten verband. Denn Hendriks Traumweiten waren anders. Sie waren nicht angefüllt mit fliegendem Blech und unbekannten Planeten, die es zu erobern galt. Hendriks Idole trugen auch keine hautengen, ocker-schwarz-gemusterten Anzüge mit kleinem Stehkragen. Hendriks Idole kommunizierten auch nicht über eine Brosche, die an der Heldenbrust steckte. Hendricks Idole waren sein Vater und Daktari. Hendriks Idole trugen Khaki und waren in den Weiten Afrikas und den Wäldern hinterm Haus unterwegs um aufzuräumen. Hendriks Idole befreiten verirrte Tiere und verwirrte Menschen von ihrem Leiden. Hendriks Idole steckten in männlichen Stiefeln, trugen männliche Funkgeräte, auch mal ein männliches Gewehr. Hendriks Idole hatte ein männliches Tier zum Freund – einen Schäferhund namens Fritz oder einen Löwen, der auf den Namen Clarence hörte, der zwar schielte und darum immer etwas dumm aussah, der aber durch eine imposante Frisur zu beeindrucken wusste und durch seine friedfertige Gesinnung jedes Herz im Sturm eroberte, fast wie Fritz.

Hendriks einzig echter Freund außerhalb dieser Weiten Afrikas schielte auch und hieß Robert. Robert trug eine Brille mit Gläsern, die dicker waren als das kugelsichere Panzerglas, hinter dem sich das Lächeln der Mona Lisa sicher fühlen durfte. Wenn Robert seine Brille abnahm, was in den seltensten Fällen freiwillig geschah, sondern weil sie ihm als Folge einer Hänselei von der Nase gefallen wurde, dann hatte Robert den Gesichtsausdruck eines erschrockenen Doozer. Für die, die nichts mit dem Begriff Doozer anfangen können: das sind kleine, knopfäugige Vertreter der Arbeiterklasse, die im Untergrund für die Fraggles schuften, während diese ihre Zeit mit Singen, Lachen und Tanzen verbringen und damit das Feier- und Konsumtum symbolisieren.

Hendrik und Robert kümmerten sich wenig um die Einteilung in Schufter und Sänger. Hendrik und Robert teilten ihre Welt in Ranger und Nichtranger. Hendriks Vater, der war ein Ranger, denn der war in einem männlichen Verein, wo alle männliches Khaki und männliche Stiefel trugen und wahlweise männliche Gewehre oder Pistolen mit sich führten. Robert hatte keinen Vater, jedenfalls keinen vorhandenen. Hätte er einen, dann würde der mit Sicherheit zu den Nichtrangern zählen, schlussfolgerte Hendrik aus den Aussagen, die Roberts Mutter über Roberts nichtvorhandenen Vater machte. Die Begriffe Schlappschwanz, Lutscher und hodenloses Sackgesicht klangen nicht so, als würden sie einen echten, ehrlichen Ranger bezeichnen, einen, der verirrte Tiere und verwirrte Menschen von ihrem Elend befreite. Nein, Roberts Vater, wenn es ihn denn gäbe, der wäre definitiv ein Nichtranger, ein Doozer, ein Looser. Die Jungs vertrauten da ganz auf das Urteil von Roberts Mutter. Immerhin war sie eine anerkannte Frau im Ort. Für diese Anerkennung hatte sie hart schuften müssen, nachdem sich das hodenlose Sackgesicht aus dem Staub gemacht hatte. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen hatten alle Männer des Ortes, Ranger wie Nichtranger, Roberts Mutter anerkannt. Woher die Jungs das wussten? Sie hörten es, wenn Nacht für Nacht einer dieser Männer aus dem Schlafzimmer schrie. „Ja, du bist gut. Ja, du bist es. Jaaaaaa verdammt, du bist es!“ Das war pure Anerkennung.

Hendriks Mutter war auch eine ortsbekannte Frau. Sie leitete den Frauenchor. Allerdings brachte ihr das nicht ganz so viel Anerkennung unter den männlichen Nachbarn wie Roberts Mutter. Dafür war ihr jede Nacht die Anerkennung durch Hendriks Vater sicher. Denn dann trainierte sie ihre Stimme und sang lautstark immer wieder diese eine Zeile für ihn: „Oh Lord, ohhhhhhhhh Lord!“  Und Hendriks Vater stieg anerkennend mit ein und sang die zweite Stimme: „Jaaaaaa, bete, Baby, bete.“ Hendrik fand es toll, dass seine Eltern ein gemeinsames Hobby hatten, auch wenn Singen in seinen Augen nicht besonders männlich war. Aber bei seinem Vater machte Hendrik eine Ausnahme. Egal, was er tat, er tat es männlich.

Hendrik wollte überhaupt genau so sein wie sein Vater. Hendrik wollte zwar aussehen und leben wie Daktari in Afrika, wollte wirken wie John Charles Carter, der – besser bekannt unter seinem Hollywood-Namen Charlton Heston – vor und hinter der Kamera zu Ruhm und Ehre gelangte, aber sein Vater war sein großes Vorbild. Kinder brauchen schließlich Vorbilder. Und ein Ranger ist ein gutes Vorbild.

Zu seinem 16. Geburtstag beschloss Hendriks Vater, die Zeit sei nun reif, seinem Sohn sein erstes Gewehr zu schenken. Später wird sich Hendrik daran erinnern, dass dies der feierlichste Moment seines Lebens war. Stolz hielt Hendrik die Nobile Grade II, Kaliber 20/76 in seinen jugendlichen Händen. Die Doppelflinte mit ihrem edlen Nussbaumschaft und der eleganten Gravur fühlte sich an, als würde sie schon immer in Hendriks Hände gehören. Jetzt war Hendrik ein echter Ranger. Ab jetzt würde Hendrik mit seiner Nobile Grade und Schäferhund Fritz durch die Wälder hinterm Haus wandern, genau wie sein Vater, um Tiere und Menschen zu erretten. In Hendriks Vorstellung aber streifte er wie ein echter Ranger durch die Weiten Afrikas, sah Elefantenherden vorbeiziehen und Giraffen friedlich grasen. Er würde Wilderer in die Flucht schlagen und von ihnen gefangene Tiere aus den blutigen Fallen erlösen. Er würde ein Held werden und das Böse besiegen, genau wie Daktari in Afrika oder Charlton Heston im Wilden Westen als „Der letzte der harten Männer“.

Und dann traf Hendrik auf das echte Leben im Wald hinterm Haus. Fritz kläffte plötzlich und gebärdete sich wie verrückt. Und weil Fritz so an der Leine zog, dass sie Hendrik fast die Finger abschnürte, ließ er sie einfach los, nahm seine Flinte von der Schulter, um besser rennen zu können und folgte Fritz – bis zu dem Baum. Da kniete Robert ohne Brille, dafür recht breitbeinig auf einer Blondine. Die sah nicht glücklich aus. Sie schien zu schreien, ohne einen Ton von sich zu geben. Ihr Mund stand offen, wie ein dunkles Loch. Robert wimmerte. Um den Baum herum standen ein paar ältere Jungs. Sie lachten während der arme Robert sich krümmte. Hendrik wollte ihm helfen, ihn beschützen, ihn retten, denn Hendrik hatte viel von seinem Vater gelernt, was Loyalität bedeutete, was echte Freundschaft ist und vor allem, worauf es beim Schießen ankam. „Du musst ganz klar dein Ziel kennen, du musst es treffen wollen, du musst es fixieren und nie wieder aus den Augen verlieren. Dann atmest du tief ein und beim Ausatmen – kurz bevor du wieder Luft holen musst – drückst du ab.“

Hendrik schoss. Bumm, der saß. Dann lud er nach, ganz ruhig und schoss wieder. Bumm, auch der saß. Noch einmal laden, einmal schießen, laden, schießen. Fritz kläffte. Das Lachen der Jungs verstummte. Robert wimmerte. Die Blondine starrte noch immer bewegungslos mit offenem Mund in den Wald. Hendrik ging zu Robert. Der arme knopfäugige Doozer hing mit seinem Hosenstall irgendwie in der Blondine fest. Aus Roberts Hose quoll allerlei Hosensaft. Es stank nach Urin, nach Blut, nach Kot. Fritz begann, sich an Roberts Hosensaft zu schaffen zu machen. Tiere haben mitunter einen komischen Geschmack, dachte Hendrik. Robert wimmerte immer leiser, sackte weiter zusammen. „Hilf mir, Ranger, hilf mir.“ Hendrik überlegte kurz, dachte an Afrika. Was würde Daktari mit einem verwundeten, wimmernden Tier machen, das saft- und kraftlos in einer Falle steckte? Er würde es erlösen. Hendrik der Ranger lud seine Nobile Grade mit dem Nussbaumschaft und der schönen Gravur ein letztes Mal an diesem Tag.

Beim Abendbrot herrschte Stille. Hendriks Mutter hatte Kohlrouladen gemacht, ihre beiden Männer liebten Kohlrouladen, da wurde viel gegessen und wenig geredet. Erst beim Pudding durchbrach Hendrik die schmatzende Stille. „Ich bräuchte mal deine Hilfe im Wald.“

Währenddessen: Der Eichkater & die Blondine