Schließ deine Augen und versuche, in Farben zu denken. Nicht in Formen, nicht in Worten, nicht in Assoziationen oder Emotionen. Denk in Farben.
Die Leinwand schweigt weiß, schreit nach Aufmerksamkeit, nach Acryl, nach Öl, nach Kolorit und Verwandlung. Im Raum ist es kühl, still, staubtaub. Ich schließe die Augen, es riecht hellgrau mit einem Hauch von Blau.
„Was für ein Blau?“, will er wissen. Ich muss nachdenken.
„Ein dunkles, durchsichtiges Blau, ein Blau, das in seiner Kraft Verletzlichkeit ausstrahlt.“
Er nickt und schraubt den Choke an seine Vorderschaftrepetierflinte. War das die richtige oder die falsche Antwort? Wahrscheinlich spielt es keine Rolle. Und nur, um meinem herumstreunenden Verdacht ein Zuhause zu geben, frage ich etwas lauter als stumm.
„Werde ich sterben?“
Wieder nickt er, schweigend. Sein Schweigen ist gelblich. Ein kratziges Gelb, ein blasses Gelb, das wässerlich-trüb an sich selbst zu ersticken scheint. Ein hustendes, zerfressenes Gelb, ein unruhiges, das sich in kaum merklichen Nuancen verliert.
„Wie?“
„Kunstvoll. Du wirst großartig aussehen.“
Ich starre auf die Leinwand, versuche mich an ihrer Leere festzuhalten. Ich denke an meine Mutter, sehe ihr farbloses Gesicht, wenn ein Beamter, dem man mit seinem Dienstantritt die Empathie aus den Venen gesogen hatte, beim Öffnen der Tür pflichtbewusst und ordnungsgemäß erst seinen Namen, seinen Rang und dann meinen gewaltsam herbeigeführten Tod durch einen vermutlich verrückten aber durchaus begabten Unbekannten verkündet. Mein Blick wandert zu den Farben, die in einer sich mir nicht erschließenden Ordnung auf dem Boden stehen, Topf an Topf, so als würden sie sich aneinander klammern um nicht umzukippen. Ich suche das Blau, mein Blau. Ich finde es nicht und meine Gedanken streunen auf den Grund eines Meeres. In meinem Kopf rauscht es. Nicht dieses perlmuttfarbene Muschelrauschen, das einem die eigenen Ohrgeräusche vorgaukelt. Mein Rauschen ist feindseliger, wie grellbunte Nadelköpfe auf grauem Schiefer. Mein Rauschen ist verletzend, zerstörend. Mein Rauschen verschluckt mich, um mich zu metamorphisieren und gewaltsam wieder auszuspucken. Mein Rauschen ist nicht Blau, es ist…
„Stell dich vor die Leinwand, ich will sehen, wie der Streuwinkel ist.“
„Hast du schon viele Bilder auf diese Art gemacht?“
Nicken. Blicke. Gedankliche Berechnungen. Er kneift die Augen zusammen, taxiert mich, schiebt mich mal ein Stück weiter nach links, mal etwas mehr nach rechts. Seine Hände sind warm und schön. Seine Haut trägt Spuren, farbige und narbige. Habe ich Angst? Welche Farbe hat Angst? Welche Farbe hat meine Angst? Ich schaue wieder auf die Töpfe. Jetzt erst sehe ich den anderen Behälter. Er steht etwas abseits, außerhalb der Reihe. Er steht allein.
„Was ist das?“
„Du weißt, was das ist.“
Ja, ich weiß, was das ist. Schrotpatronen, gefüllt mit Farbkugeln. Sie werden meinen Körper zerfetzen, platzen und sich zusammen mit meinem Blut, meinen Eingeweiden und meiner Seele in das Weiß der Leinwand fressen. Die Leinwand wird mich trinken, aufsaugen, einatmen, verschlucken. Ich werde Leinwand sein.
„Was passiert danach mit meinem Körper?“
„Was ist schon ein Körper? Nur eine Hülle, eine übergestreifte Eitelkeit. Ich befreie dich davon. Du wirst farbige Ewigkeit, du wirst pigmentierte Zeitlosigkeit. Ich schenke dir etwas, das dich besser ziert als dieser Körper es kann. Ich schenke dir polychrome Bedeutsamkeit.“
Welche Farbe hat Bedeutsamkeit? Ich weiß es nicht. Sag du es mir, schau auf die Leinwand.