… oder: Wie alles begann (1)
Der Waldboden war trocken, dennoch roch es feucht hinter den Bäumen. Frühlingsfeucht. Ein Zartgrün schob sich unter rostigen Altblättern hervor, noch etwas mühevoll aber mit ungebremstem Drang dem Licht entgegen. Dünne Pflänzchen, dünne Blätter, dünne Triebe, zu zart für schweres Schuhwerk und harte Tritte. Noch lag Stille über dem Wald. Irgendwo in einem der winterkahlen Wipfel sang ein rothalsiger Vogel seiner Sonne entgegen. Kleines Kehlchen, schöne Stimme, auf der Suche nach Anschluss in dieser Stille. Den wird er bald finden. Der Tag sorgte schon dafür, dass ein solch wunderbarer Sänger mit solch wunderbarer Zeichnung nicht lange allein bleiben würde. Die Schönsten blieben nie lange allein. Die Schönsten weckten Verlangen, Begierde mitunter. Die Schönsten zogen Andere an, auch weniger Schöne – bisweilen. Und dann kann es unschön werden – vereinzelt.
Bewusst atmen. Denk an deine Atmung. Ausatmen ist genauso wichtig, wie einatmen. Ein, zwei Schritte durch die Nase ein, pump dich voll. Mindestens doppelt so viele Züge wieder aus. Benutze deinen Mund. Mach deine Lungen richtig leer. Spüre es.
Das Kehlchen flog davon, verschreckt, gestört in seinem Liebeslied, das ungehört verstummte. Schritt um Schritt flogen die Bäume an der Läuferin vorbei, nicht hastig, nur beflügelt. Wurzelwerk kreuzte ihren Weg, ließ sie zur Gazelle werden. Ihre Schritte waren ganz leicht und so hellgrün wie die ersten Bodenblüher. Ihre Schuhe waren Air. Frühlingsair. Nur ihr Herz war etwas schwer und angefüllt mit Ballast. Das drückte. Noch mehr Druck, und es würde eine unschöne Blase bilden, voll der Tränen. Dann müsste sie ihr Herz aufstechen, so dass die Wundflüssigkeit ablaufen könnte. Und ein Pflaster müsste sie darüber kleben, damit kein Dreck in die offene Herzwunde käme. In Zukunft wollte sie auf sich achten.
Lass einfach alles los, wenn du läufst. Deine Gedanken, deine Gefühle, wirf sie mit jedem Schritt hinter dich. Dein Kopf wird frei, dein Blut reinigt sich vom Alltagsdunkel. Dein Körper ist nicht mehr Fleisch und Knochen, er ist rotes Adrenalin mit weißen Endorphinflügeln.
Weil das Blut in ihren Ohren rauschte, hörte sie das Knacken der Äste nicht. Morsches Astwerk unter schweren Füßen. Schwere Füße an groben Körpern. Grobe Körper unter hohlen Köpfen. In ihren Händen hielten sie harte Eisen, zackige Werkzeuge, bestialische Fallen, die Grausames verrichten sollten, dort im Wald, wo nur der Frühling grasen wollte. Es waren vier Unschöne. Und sie, die Schöne, sie hatte ein ebenso unschönes Verlangen in ihnen geweckt.
„Das nenn‘ ich mal einen feinen Fang. Haltet sie fest, haltet sie doch fest verdammt. So wird das nichts. Scheiße, seht zu, dass sie nicht mehr schreien kann. Macht, dass sie endlich still ist. Stopft ihr den verdammten Mund!“
Frühlingsair. Atme. Durch die Nase ein. Ein. Ein. Atme. Bewusst. Aus.
Das Bewusstsein wich. Das Rauschen in ihren Ohren verstummte wie kurz zuvor das Singen aus der kleinen Kehle im kahlen Baum. Dumpfes Gelächter und Bosheiten krochen über den Waldboden, der jetzt nicht mehr ganz so trocken war. Unbeherrschte Gier zerwühlte das Laub, mischte sich mit dem Geruch panischer Angst, mit dem Geruch ausgehauchter Seele. Ihr Mund wurde gebraucht. Nicht mehr zum Atmen. Ihre Lungen wurden leer und nicht wieder gefüllt. Nie mehr.
„Bindet sie da an den Baum. Ja verdammt, an den Baum. Setzt sie aufrecht hin, die Beine breit, noch breiter. Ja genau. Genauso, als würde sie es wollen. Los, jetzt seid ihr dran…“
Ganz in der Nähe erwachte Michi mit dem buschigen Schwanz, putzte sich die Nacht aus den Augen und kletterte aus seinem Kobel. Die frischen Düfte des nicht mehr aufzuhaltenden Frühlings lockten. Sein Magen war leer und knurrte nach Füllung. Die Sonne blendete bereits und Michi der Eichkater griff zur Ray Ban, bevor er an seinem Baumstamm hinunterflitze und geradewegs in die Eisenfalle tappte. Dumme Brille. Bissiges Eisen. Armer Eichkater. Pochende Pfote.
Zur gleichen Zeit strahlte Hendrik, der Ranger, seinem Vater entgegen, während der ihm mit feierlicher Geste die Nobile Grade II mit ihrem edlen Nussbaumschaft überreichte. Im Wald hinterm Haus war es wieder still, vorerst, die schweren Schritte fort, für den Moment. Ein paar hellgrüne Airs lagen verstreut unter dem Laub, das noch immer dem Winter gehörte. Auf einem klebte Rot, beim zweiten fehlte der Senkel.